Wehner, Maximilian
Dissertationsthema:
"Narragonischer Raum. Studien zu Sebastian Brants Narrenschiff, ausgewählten Bearbeitungen und einem belehrenden Programm der Räumlichkeit."
Kontaktadresse an der Universität Würzburg:
Philosophische Fakultät
Institut für deutsche Philologie
Lehrstuhl für deutsche Philologie, Ältere Abteilung
Am Hubland
97074 Würzburg
Erstbetreuer/in: Prof. Dr. Joachim Hamm
Zweitbetreuende:
Fr. Prof. Dr. Brigitte Burrichter
Klasse in der Graduiertenschule: "Mittelalter und Frühe Neuzeit"
Promotion in der Graduiertenschule ab WS 2020/21.
Abstract:
Sebastian Brants Narrenschiff (Basel 1494) kritisiert als satirisch belehrendes Werk des späten Mittelalters die menschliche Narrheit als fehlgeleitetes und allein diesseitig orientiertes Alltagshandeln der Zeitgenossen. Im Mittelpunkt der Dichtung steht die Warnung vor einem Leben, das von Eitelkeiten, der Begierde nach vergänglichen Gütern und Eigennutz bestimmt wird und die Gesellschaft so in das Narrenland Narragonien führt. In 112 Kapiteln fordert Brant seine Leser daher auf, sich von der Torheit, die jedem Einzelnen anhaftet, zu befreien und stattdessen den mühsamen, aber erlösenden Weg der Tugend, wahren Erkenntnis und Weisheit (sapientia) zu beschreiten, der zum stad der wißheyt führt. Zu einer entsprechenden Richtungs- und Willensentscheidung sieht Brant den Einzelnen vor dem Horizont der europäischen Geistesströmung des Renaissance-Humanismus, seines Welt- und Menschenbilds, das sich in seinem literarischen Werk vielfach niederschlägt, sowie eines gelehrten Dichtungsverständnisses grundsätzlich befähigt.
Von zentraler Bedeutung für seine Belehrung sind für Brant die wissensvermittelnden Figurenexempel, die er den Narrendarstellungen in den einzelnen Kapiteln des Narrenschiffs zur Seite stellt. Durch sie betont er die Notwendigkeit, sich mithilfe der Vernunft, einer dem Menschen möglichen Einsicht und Urteilskraft, des tugendhaften Verhaltens und der Gemeinschaftsorientierung für den Erhalt bzw. die Schaffung einer stabilen Gesellschaftsordnung einzusetzen. Ein ebenso zentraler Wegweiser zu einer solchen Ordnung ist darüber hinaus die literarische Räumlichkeit des Werks, die häufig mit den Figurenexempeln verbunden ist. Auch sie ist als exemplarisch-referenzielle Vermittlungsstruktur konstruiert und verweist als eine entsprechende Tiefenschicht der Narrendichtung in Text und Bild auf einen orientierungsvermittelnden Thesaurus des abendländischen Wissens um 1500. In der Vorstellung einer Lebens- und Erkenntnisreise des Einzelnen führt die Lektüre des Narrenschiffs den Leser damit aus dem närrischen Dunkel der Unwissenheit in Richtung eines erleuchteten und tugendhaften Lebens. Die einzelnen Raumnennungen der Kapitel dienen dabei als wichtige Zwischenstationen der Erkenntnis und bilden in ihrer Gesamtheit, ihren referenzierten Belehrungs- und vermittelten Bewältigungspotenzialen der sich außerliterarisch offenbar immer mehr zum Schlechteren verkehrenden Welt einen das Narrenschiff gänzlich umfassenden narragonischen Raum, d. h. eine die gesamte Dichtung einnehmende literarische Räumlichkeit, die positiv normierend in die gelebte gesellschaftliche Wirklichkeit ihrer Zeit hinauszuwirken und zu deren Verbesserung beizutragen versucht. Hierzu schöpft der poeta doctus Brant aus einer Vielzahl ideen-, motivge schichtlicher und literarischer Traditionen und knüpft an Überlegungen der römischen Stoa, der spätantiken Kirchenväter, des zeitgenössischen Renaissance-Humanismus sowie der Frömmigkeitstheologie am Oberrhein an. Im Kern zielt seine literarische Darstellung dabei auf die handlungsinitiierende Konstruktion eines neuen Weltverhältnisses des Menschen, das diesen in der Überwindung zeitgenössisch wahrgenommener individueller und gesellschaftlicher Missstände den ethisch richtigen Lebensweg einschlagen lässt.
Die verschiedenen Bearbeitungen des Narrenschiffs, die bereits kurz nach dessen erstem Erscheinen entstehen, greifen Brants raumliterarische Konstruktionen auf. Zugleich transformieren das Narrenschyp (Lübeck 1497), Jakob Lochers Stultifera navis (Basel 1497), Jakob Cammerlanders Kleines Narrenschiff (Straßburg 1540) sowie Nikolaus Hönigers Welt Spiegel (Basel 1574) die literarische Räumlichkeit von Brants Narrendichtung, um die literarische Fahrt ihrer Narren wie die ihrer Leser an veränderte Vermittlungsanforderungen der jeweiligen Ausgaben, an ein anderes intendiertes Lesepublikum, an gewandelte gesellschaftliche, etwa theologisch und politisch im Umbruch befindliche Rezeptions- und Wirkungskontexte und damit notwendigerweise veränderte Belehrungs- und Bewältigungspotenziale der Narrendichtung anzupassen. Dabei verliert die literarische Räumlichkeit im Hinblick auf die umfassenden Belehrungs- und Vermittlungsabsichten der Werke jedoch nie an Bedeutung. Schließlich lassen die Transformationen des narragonischen Raums Brants die literarische Räumlichkeit seines Narrenschiffs immer wieder in neuem Licht erscheinen und nuancieren damit dessen humanistisch-gelehrte und (frömmigkeits-)theologisch-erbauliche Gebrauchs- und Verständniszusammenhänge. Ex post nehmen sie somit Einfluss auf das Verständnis ihrer Referenzsphäre und verdeutlichen, dass sich deren Darstellungs- und Wirkungsziele gänzlich erst mithilfe einer überlieferungsgeschichtlichen Betrachtung erschließen.